Transporte von Istanbul nach Reykjavik und von Madrid nach Oslo: Fernfahrer sind oft über Monate quer durch Europa unterwegs, weit weg von der Familie und dem heimischen Schlafzimmer. Stattdessen sitzen sie viele Tage in Folge hinterm Steuer und übernachten meist gleich in der Fahrerkabine – sofern sie einen freien Stellplatz ergattern konnten. Das verdiente Abendessen wir oft am Gaskocher zubereitet und am mitgebrachten Campingtisch verzehrt. So in etwa sieht heute das Leben sehr vieler Fernfahrer in Deutschland und Europa aus.
EU-weit einheitliche Arbeitsbedingungen für alle LKW-Fahrer
Die oben beschriebene Lebensweise soll jetzt Geschichte sein: Das EU-Parlament hat Anfang Juli 2020 ein “mobility package” genanntes Reformvorhaben verabschiedet. Davon sollen 3,6 Millionen LKW-Fahrer profitieren, besonders aber diejenigen aus Osteuropa. Denn meist sind sie es, die ihre Nächte im Laster verbringen, im EU-Vergleich unterdurchschnittlich bezahlt werden und eine Fahrt nach der anderen runterreißen. Damit wollen die rumänischen, polnischen und bulgarischen Speditionen im globalisierten Konkurrenzkampf um die Touren bestehen.
Fahrerkabine war gestern, Hotelzimmer ist morgen
Eine neue Regelung ist besonders einschneidend: Die Fernfahrer dürfen am Wochenende nicht mehr in ihren Fahrzeugen übernachten. Genauer gesagt müssen sie die wöchentlich vorgeschriebene, zusammenhängende Ruhezeit von 45 Stunden im Hotel oder in einer Pension verbringen. Unter der Woche, am Ende einer Tagestour, dürfen sie sich immer noch einen Platz auf der Raststätte oder dem Parkplatz suchen. Damit will man Missstände auf den überfüllten Rastplätzen in den Griff bekommen, so die Begründung der EU-Verkehrsminister.
Nach dem Scheitern im ersten Anlauf kommt jetzt der zweite Versuch
Einen ersten Anlauf hat die EU schon vor zwei Jahren gemacht – allerdings hat sich außer Frankreich praktisch kein Mitgliedsland daran gehalten. Frankreich kontrolliert schon jetzt streng und treibt Bußgelder sofort ein. Alle anderen taten sich schwer damit: Regelmäßige und flächendeckende Kontrollen seien kaum drin, heißt es zum Beispiel vom Verband Spedition und Logistik Nordrhein-Westfalen.
Die neue Verordnung soll in 2021 in Kraft treten
Jetzt macht die EU Druck. Die Verordnung zum Kabinenschlafverbot während der großen Wochenpause soll spätestens im nächsten Jahr in Kraft treten und muss dann von allen EU-Staaten umgesetzt und kontrolliert werden. Die weiteren Regelungen des Gesetzespaketes sollen nach und nach bis zum Jahr 2026 in geltendes Recht umgesetzt werden.
Speditionen bewerten die Regelung als wenig durchdacht
Bezahlt werden soll dieser bescheidene Luxus von den Spediteuren. Das stößt nicht nur dem osteuropäischen Transportgewerbe sauer auf, welches sich massiv gegen das ganze Paket gewehrt hat, weil man um seine Geschäftsgrundlage fürchtet. Auch hiesige Spediteure haben Probleme mit der Regelung. “Natürlich unterstützen wir das”, sagt zum Beispiel Benjamin von Cetinich vom Verband Spedition und Logistik Nordrhein-Westfalen. “Es ist nicht gut, wenn die Fahrer unterm LKW schlafen und sich von Ravioli ernähren.” Aber: “Das ist alles nicht durchdacht.”
Wie soll die praktische Umsetzung aussehen?
Von Cetinich zählt auf: “Wo sind die Hotels? Wer bewacht die Fracht? Und wenn sie ein Hotel ansteuern, finden es die Anwohner ganz bestimmt auch nicht toll, wenn 40-Tonner durch ihr Wohngebiet donnern.” Stefan Henz von der Kölner Spedition Moeller ergänzt: “Selbst wenn ein Low-Budget-Hotel 40 Euro die Nacht kostet – das sind 320 Euro im Monat, das will kein Auftraggeber übernehmen.”
Die Parkplätze bleiben überfüllt
Wird ein Fahrer während der großen Pause in seiner Kabine erwischt, in der er womöglich notgedrungen bleiben musste, wird die Spedition zur Kasse gebeten – nicht nur in Frankreich, sondern EU-weit. “Es wird Bußgelder hageln”, sagt von Cetinich, “weil es eben an der Infrastruktur fehlt. Bis sich daran etwas ändert, wird es zehn Jahre dauern – mindestens”. Bis dahin gibt es weiter übervolle Parkplätze mit Fahrern, die sich vorm Fahrzeug ihr Essen machen. “Und jetzt”, prophezeit von Cetinich “werden sie sich auch noch alle schnell verstecken, sobald ein Kontrolleur auftaucht.”
Spedition SPEWIE schließt sich der Kritik an
Simon Wiesholler, Geschäftsführer der SPEWIE Spedition Wiesholler GmbH aus Holzkirchen bei München, schließt sich der Verbandskritik an. Auch er sieht große Umsetzungsprobleme auf die Speditionen zukommen. Innerhalb der verbleibenden Jahresfrist werde es sicher nicht möglich sein, die benötigte Park- und Übernachtungsinfrastruktur aus dem Boden zu stampfen. Erschwert würde diese Aufgabe noch durch die aktuelle “Corona-Krise”, die Ihren wirtschaftlichen Höhepunkt voraussichtlich Ende dieses und nächstes Jahr erreichen werde.
Am Ende laufe es laut Wiesholler darauf hinaus, dass sich die Diskrepanz zwischen den gesetzlichen Vorgaben im Transportwesen und deren praktischer Umsetzbarkeit weiter vergrößert. Leidtragende seien erneut die Speditionen, deren Haftungsrisiken weiter steigen und die bei unvermeidbaren Regelverstößen mehr denn je auf das Wohlwollen der Behörden angewiesen sind. Das sei ein untragbarer Zustand.